Vortrag Philipp Meuser: TASCHKENT, Architektonisches Versuchslabor der Sowjetunion

Taschkent, die größte Metropole im ehemaligen sowjetischen Orient, ist nicht nur eine Stadt an der legendären Seidenstraße sondern auch ein Ort der architektonischen Kontraste und Paradoxien. Die »Stadt mit den schönsten Plattenbauten der Welt« (Martin Mosebach) lebt seit über 150 Jahren mit einer Dualität der orientalischen Altstadt und der russisch-sowjetischen Neustadt. Niemals rückte dieser Kontrast in einen zentraleren Blick als bei dem schweren Erdbeben von 1966, das die neue Stadt verhältnismäßig unversehrt verließ, die alte Stadt aber in Trümmern versetzte. Diese Naturkatastrophe sollte fortan den städtebaulichen Maßstab neu definieren. Der in der gesamten UdSSR proklamierte Wiederaufbau im Rahmen der Völkerfreundschaft generierte zur beispiellosen Transformation einer historisch gewachsenen urbanen Struktur in eine sozialistische Musterstadt. Taschkent wurde zur Bühne der sowjetischen Stadtplanung insgesamt – aus allen Teilrepubliken reisten Architekten und Bauleute nach Usbekistan. Mit im Gepäck hatten sie neue Bautechnologien, gestalterische Ideen und einen politischen Auftrag: Taschkent binnen weniger Jahre zu einer der modernsten Städte in der Sowjetunion auszubauen. Der Wiederaufbau von Taschkent ist daher ein gelungenes Beispiel für eine sozialistische Stadtplanung, bei der technische Standardisierung und soziale Erfordernisse nicht im Widerspruch standen zu experimentellen Wohnkonzepten und einer gleichzeitigen Suche nach nationaler Identität im Bauwesen.  

Der Berliner Architekt und Verleger Philipp Meuser reist seit Jahren durch die ehemalige Sowjetunion. Sein Weg führt ihn immer wieder nach Taschkent, wo die Sowjetmoderne besonders beeindruckende Wohn- und Gesellschaftsbauten hervorgebracht hat. Im Rahmen des Vortrags betrachtet Meuser auch den baugeschichtlichen Kontext des Kalten Krieges, ohne den die architektonische Vielfalt in der usbekischen Hauptstadt bei weitem nicht so ausgeprägt wäre.