Abfallmoderne. Ein Symposion zu den Schmutzrändern der Kultur (2008)

Moderne Zivilisationen sind durch ein hohes Maß an Abfallproduktion gekennzeichnet, sodass man regelrecht von einer „Abfallmoderne“ (Manfred Faßler) sprechen kann. Im Abfall spiegeln sich nicht nur die Alltags- und Kulturgeschichte einer Zivilisation, die mit seiner Hilfe von Historikern rekonstruiert wird, sondern generell die Werthaltungen einer Gesellschaft, ihre ästhetischen, moralischen und weltanschaulichen Prämissen. Deshalb wird das Modell von Reinigen/Entsorgen oft auch auf andere Lebensbereiche übertragen: Zeichnete sich z.B. die Moderne in Kunst, Architektur und Stadtplanung durch ein Höchstmaß an Reinigung aus, so wurden in der Postmoderne viele damals ausgeschiedene und verworfene Bereiche wieder reintegriert, quasi als „Kompost“ (Roger Fayet) wiederverwertet, wie z.B. historische Ornamente oder Stile.

Aber auch während der Moderne selbst beschäftigten sich auffallend viele Künstler mit den Abfallprodukten der Gesellschaft, um sie positiv umzuwerten: Picasso, die Dadaisten und Surrealisten arbeiteten mit weggeworfenen Fundstücken, die Nouveaux Réalistes bauten Skulpturen aus Müll, Schrott und Essensresten, die Aktionisten ersetzten Farbe durch Körperflüssigkeiten usw. Mittlerweile sind Schmutz und Gebrauchsspuren en vogue, sind Gegenstand einer neuen „Ruinenästhetik“ (Monika Wagner) geworden. Diesem metaphorischen „Abfall“ steht eine hoch entwickelte Technologie gegenüber, die auf den Gebieten von Müllvermeidung, Mülltrennung und Recycling den täglichen Abfall in den Griff zu bekommen sucht, während die Öffentlichkeit oft nur durch Skandale um geplante Mülldeponien auf die Tatsache gestoßen wird, dass Abfall mittlerweile längst als eine Ware ge- und behandelt wird.

Das interdisziplinäre Symposion ging der Frage nach, inwieweit das Abfallmodell zur adäquaten Beschreibung von Phänomenen der Gegenwart dienen kann und welche Querverbindungen damit zwischen verschiedenen Gebieten des Wissens und der Kultur herzustellen sind.

Leitung: Anselm Wagner (in Kooperation mit dem Institut für Kunstgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz)

 

Vortragende:

• Johann Konrad Eberlein (Inst. f. Kunstgeschichte, Universität Graz): Abschweifungen: Der Mensch, sein Abfall und die Kunst

• Ullrich Schwarz (IAKK, TU Graz): Einzelheiten: Abraum und Abfall der Geschichte

• Manfred Prisching (Inst. f. Soziologie, Universität Graz): Trash economy. Abfallmaximierung als Wirtschaftsprinzip

• Susanne Hauser (Inst. f. Geschichte u. Theorie d. Gestaltung, Universität der Künste, Berlin): Recycling, ein Transformationsprozess

• Christoph Scharff (ARGEV Verpackungsverwertungsges.m.b.H., Wien): Abfallwirtschaft in einer arbeitsteiligen Gesellschaft

• Roland Pomberger (Fa. Saubermacher, Graz): Was hat Abfallwirtschaft mit der Steinzeit zu tun?

• Elisabeth Vykoukal (Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien): Was macht unsere Seele mit dem Abfall? Anmerkungen zum Messie-Syndrom

• Ulrike Bechmann (Inst. f. Religionswissenschaft, Universität Graz): Die Asche der roten Kuh (Num 19) oder die Entsorgung des Heiligen

• Eleni Schindler Kaudelka (Archäologischer Park Magdalensberg, Graz): Deponierung und Recycling in der römischen Stadt auf dem Magdalensberg in Kärnten

•  Ulrike Gelbmann (Inst. f. Systemwissenschaften, Innovations- u. Nachhaltigkeitsforschung, Universität Graz): Müll ist Materie am falschen Ort. Zum Verwertungsparadoxon in der Abfallwirtschaft

• Friedrich Tietjen (Hochschule für Grafik u. Buchkunst, Leipzig): Die zweite Chance. Beobachtungen zum Recycling in Deutschland

• Daniel Gethmann (IAKK, TU Graz): Abfall der Erkenntnis. Zur Mediengeschichte der Dinge

• Klaus Rieser (Inst. f. Amerikanistik, Universität Graz): Sind Home Movies Trash? Zwei Experimentalfilm-Antworten

• Werner Jauk (Inst. f. Musikwissenschaft, Universität Graz): trash musics: in-dust/e-grains/dig-glitches. Die andere Mediamorphose aus dem Spiel mit der Durchlässigkeit des „Mülleimers der Geschichte“

• Gunther Reisinger (Inst. f. Kunstgeschichte, Universität Graz): Bildabfall. Digitale Quellen zwischen kunstwissenschaftlicher Methode und Recycling

• Roger Fayet (Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen): Der Abfall und das Museum

• Julia Feldtkeller (Freie Restauratorin, Tübingen): Restaurieren und Saubermachen

• Anselm Wagner (IAKK, TU Graz): „Wir säubern Graz!“ Zur politischen Ikonographie der Gegenwart